Startseite Archiv Tagesthema vom 03. Januar 2020

"Die Vielfalt der Kirche wird in Zukunft zunehmen"

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"Wir werden Glauben in anderen und neuen Formen leben"

Es wird in absehbarer Zeit vermutlich einen Wandel der Kirche von einer Behörde und staatsnahen Einrichtung zu einer Organisation geben. Wie viel schlagkräftige Organisation ist die Kirche bereits? 

Ich sehe die Zukunft der Kirche in einer klugen Balance zwischen Institutionen und Organisationen. Eine Zeit lang haben wir gedacht, wir könnten das eine gegen das andere ausspielen. Das ist, glaube ich, nicht der Fall. Wir brauchen beides: Die Institution Kirche, die für grundlegende Werte und Überzeugungen steht, die über Generationen hinweg Geltung haben. Und gleichzeitig müssen wir unseren organisationalen Charakter stärken. Das bedeutet, dass wir unseren Glauben auch in anderen und neuen Formen leben werden - vielleicht sogar über die Grenzen unserer bisher existierenden Ordnungen hinaus. Dazu könnten zum Beispiel neue Gemeinschaften gehören. Wir haben ja bereits ein breites Spektrum von missionarischen bis zu hoch liturgischen Gemeinden, die in ihren Formen völlig unterschiedlich sind. 

Was meinen Sie damit genau?

Bisher ist eine Gemeinde in der Regel so organisiert, dass es ein Kirchengebäude und ein Gemeindehaus gibt sowie unter anderen einen Kirchenvorstand, einen Pastor oder eine Pastorin und einen Diakon oder eine Diakonin und so fort. Künftig kann es vielleicht zu ganz anderen Arten von Gemeinden kommen: die sich nur für einen begrenzten Zeitraum zusammentun, wohl möglich ohne Pastor, nur mit einem ehrenamtlich beauftragten Prädikanten. Vielleicht sogar ohne ein Kirchengebäude, sondern aus einer Hausgemeinde heraus, die sich eigene Räume sucht. Warum soll es nicht auch eine reine, allein von Jugendlichen konzipierte und getragene Jugendkirche geben? Oder international geprägte Gemeinden, die mit neuen Kooperationsformen Teil der Landeskirche sein können?  Und auch im Bereich Socialmedia gibt es immer mehr hauptberufliche und ehrenamtliche kirchliche Mitarbeitende, die da aktiv sind und viele Menschen ansprechen. Da geschieht Verkündigung und Seelsorge – ist das nicht auch schon Gemeinde?

Bedeutet das mehr Vielfalt?

Ja, die Vielfalt wird zunehmen. Ich hoffe, dass wir schon in den nächsten Jahren Anträge von neuen Gemeinden bekommen, die in unserer Landeskirche aufgenommen werden möchten. Ich denke dabei zum Beispiel an Menschen, die sagen, wir sehen uns als lutherische Christen, wir haben Menschen, die Theologie studiert haben und eine Leitungsfunktion übernehmen können. Aus meiner Sicht spricht eigentlich nichts dagegen. Natürlich wird eine solche Entwicklung, die ich für die nächsten 20 bis 30 Jahre skizziere, für diejenigen unter uns, die wir die Kirche als Institution repräsentieren, erst einmal schwierig und schmerzhaft sein. 

Gibt es dafür bereits einen rechtlichen Rahmen?

In unserer neuen Kirchenverfassung haben wir entsprechende Voraussetzungen geschaffen: Wir können solche Zusammenschlüsse als Kirchengemeinde gelten lassen und auch finanziell unterstützen. Mein Wunsch ist, unsere Verfassung so offen und liberal auszulegen, dass auch andere Gemeindeformen in unserer Kirche akzeptiert werden. Das würde auch uns neu beleben. Interessant ist doch, dass sich zurzeit auch in der Gesellschaft neue soziale Gemeinschaften entwickeln. Es wäre wünschenswert, wenn es dadurch auch zu einem Schub in unsere Kirche hinein käme. Ich begrüße es sehr, wenn Neues entsteht und gelingt. 

Gilt dies nur für die evangelische Kirche?

Ich wünsche mir auch für die Ökumene eine noch tiefere Zusammenarbeit. Fakt ist, dass die evangelische und die katholische Kirche zusammen bald nicht mehr die Mehrheit in der Bevölkerung in unserem Land haben werden. Viele fragen schon heute nicht mehr, ob jemand evangelisch oder katholisch ist, sondern ob er Christ oder Christin ist. Wir müssen uns also überlegen, was wir gemeinsam tun können - bis hin zur Gründung von reinen ökumenischen Gemeinden. Das ist zwar ein ferner Wunsch, aber man kann ihn ja ruhig einmal äußern. Noch wissen wir nicht, wie solche Gemeinden aussehen könnten, weil wir einfach nicht so weit sind. Noch haben wir unsere Differenzen, zum Beispiel mit dem Abendmahl . Wir brauchen Initiativen, die uns in beiden Kirchen herausfordern. Ich finde es großartig und ermutigend, dass wir hier in Niedersachsen mit unseren katholischen Bischöfen, Franz-Josef Bode in Osnabrück und Heiner Wilmer in Hildesheim, solche möglichen Perspektiven überhaupt bedenken können.

Evangelischer Pressedienst (epd)

"Viel mehr Verbindendes als Trennendes"

Der katholische Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer begrüßte die Überlegungen seines evangelischen Amtskollegen. "Ich bin der festen Auffassung, dass es zwischen den beiden großen deutschen Kirchen viel mehr Verbindendes als Trennendes gibt", sagte Wilmer dem epd.

"Wir alle sind als Christinnen und Christen aufgefordert, das Evangelium zu bezeugen und zu verkünden", betonte Wilmer. "Wie wir in der Seelsorge gemeinsame Wege gehen können, ist eine richtige und wichtige Frage für die Zukunft. Damit werden wir uns in der Ökumene ganz sicher weiter befassen."

epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen

Kurz-Vita Ralf Meister

Ralf Meister wurde am 5. Januar 1962 in Hamburg geboren und seit 26. März 2011 Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. 
Er war zuvor drei Jahre Generalsuperintendent in Berlin und sieben Jahre Propst in Lübeck. Bis 1996 war Meister in der Arbeitsstelle „Kirche und Stadt“ am Seminar für Praktische Theologie an der Universität Hamburg tätig. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Veröffentlichungen zu religions- und stadtsoziologischen Fragestellungen. 
Seit 2012 ist Meister Vorsitzender des Rates der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. 2018 wurde er zum Leitenden Bischof der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlandsgewählt. Meister ist verheiratet mit der Kieferorthopädin Dr. Dagmar Ulrich-Meister und Vater dreier Kinder: Juval (1989), Lotta (1999) und Tom-Lasse (2000).